P wie Pimp my Baby

Yo man! Wer kennt noch WestCoastCustoms? Diese vollkommen abgefahrene US-Autowerkstatt, in der du deine alte Schrottkarre mit irrsinnig teuren (und völlig überflüssigen) Teilen frisieren und aufmotzen lassen kannst. Fährst mit nem rostzerfressenen alten Trabbi rein und raus kommt ein Geschoß mit dreizehn Spoilern, Metalliclack im Flammenlook, sarggroßen Boxen und Flachbildschirm im Autohimmel. Pimp my Ride, Man! Klar, oder?

Äh? Ja, is ja gut, war mal ne Serie auf MTV, kennt wieder keiner.
(Sorry, hatte heute eine Begegnung der dritten Art bei der Arbeit. Auf meiner Rückbank saßen Flo Rida und Xzibit, ehrlich. Ich bin immer noch ganz wuschig. Seitdem hab ich den Rapper-Floh im Ohr. Geht auch wieder weg. Hoffentlich.)

Wo war ich? Also ernsthaft jetzt. Es gibt diese „Pimp my Auto/Wohnung/Wasweißichnochalles Ideologie ja auch für Babys und es wird gefühlt immer schlimmer.
Die Zwerge sollen viel und das möglichst früh und am besten besser als alle andern können. Wenn Nachbars Kunigunde mit sechs Monaten schon anfängt zu krabbeln, dann wird Gwendoline mißtrauisch beäugt, wenn sie sich noch lieber gemütlich auf dem Rücken liegend die Welt anschaut.
Die Kleinen werden an den Ärmchen hochgezogen um sie zum Stehen zu animieren, in Sitzhaltung mit Kissen umpolstert (Gucke Se ma- die sitzt schon! *Baby kippt laangsam vornüber*) und in jeder freien Sekunde mit Rasselchen und Püppchen und Trallala hier und Scheißendreckchen da zum Spielen animiert, nein, Verzeihung: gefördert. Grundausstattung in jedem, aber wirklich JEDEM Baby- und Kleinkindzimmer: O-Bälle in allen Varianten, die Sortierbox, das Spieltrapez und als absoluter Höhepunkt: die Motorikschleife, das sinnloseste, als Förderspielzeug verkleidete Dumme Zeuch unter der Sonne. Hmpf.
Wer sein Baby mit der Motorikschleife quält langweilt, wird dafür bezahlen, glaubt es mir. Vierzig Jahre später wird es heißen: War ja ganz schön bei euch, die Kindheit, aber die Motorikschleife verzeih ich euch nicht, ihr kommt ins Heim!
Okay, na gut, wahrscheinlich wird das nicht passieren, Babys haben ja ein ziemlich mieses Gedächtnis- zum Glück für euch. (Uns. Jajaja- natürlich muss es korrekt heißen: uns. Hmpf. Wir haben sie geschenkt bekommen, ich schwöre!)
Von ca fünfzig mir bekannten Motorikschleifenbesitzern im Krabbelalter haben sich maximal zwei länger als 14 Sekunden dafür interessiert. Und die gaben nach einer Viertelstunde auch auf. Oder so. Jahaaa: natürlich gibt es hier und da Kinder, die sich damit beschäftigen können und möchten. Aber die Anzahl der in Deutschland verkauften Motorikschleifen ist (nach meiner repräsentativen Umfrage in den besagten fünfzig Kinderzimmern) derart irrsinnig viel höher als die Anzahl der Kinder, die die Dinger wirklich interessant finden, das ich mich frage, wieso ist das so?
Irgendein Mensch (vermutlich ein Hersteller von Motorikschleifen) hat den Teilen mal das Etikett „pädagogisch wertvoll“ verpasst und seitdem kaufen das alle Leute wie Depp. (Wieso komm ich nie auf solche glänzenden Dollar-Ideen?) Kann nicht anders sein, weil: allenthalben grassiert der Förderwahn.
Sind wir mal ehrlich: das meiste Spielzeug in einem Durchschnittskinderzimmer glänzt mit dem Etikett „Ganz toll, weil“ (fördert die Motorik/das Sprachverständnis/das Laufenlernen/die Verdauung/die Bilanz des Herstellers/wasauchimmer“) „Was? Das ist gut fürs Kind?“ Bääm! Schon gekauft! Funktioniert zuverlässig, vor allem in gutsituierten Elternhäusern.
(Nur mal als Beispiel: Hier wurde natürlich auch pädagogisch wertvolles Spielzeug gekauft, in diesem Fall: das Spieltrapez. Ein verdammt ziemlich arschteures Gerät, möchte ich betonen! Es hat dann sehr lange gedauert, bis Sohnemann es geschafft hat, aus seiner Wippe heraus diese nervigen Holzhängerchen zur Seite zu schieben, weil er eigentlich nur eins im Sinn hatte: Mama beobachten. Die Welt anschauen. Die Sonne, die Zimmerpflanzen, die unsichtbaren Freunde, was weiss ich noch alles zu betrachten. Und da bambeln ständig so ein paar Holzstörenfriede GENAU im Blickfeld rum. Wie verschnarcht war ich da, verdammt??)
Natürlich schadet das Förderspielzeug nicht zwangsläufig. Aber spätestens dann, wenn man dann die Kinder fortlaufend in der „richtigen Handhabung“ ihres pädagogisch wertvollen Spielzeugs unterrichten will. (Spätestens seit der Supernanny habe ich ein gestörtes Verhältnis zu „pädagogisch wertvoll“. Aber das ist ein anderes Thema.)
Beispiel Sortierbox:
Ein buntes Ding mit verschiedenen Formen, die in verschiedene Öffnungen passen und eingefügt werden sollen. Zuerstmal hat kein Baby oder Kleinkind auch nur den Hauch einer Ahnung von dem viel zu erwachsenen Konzept der Sortierbox. Die Kids sehen lediglich was buntes und das wollen sie untersuchen (oder auch nicht und die Tupperschublade ist interessanter. Und nu?). Schmecken, befühlen, werfen, wasauchimmer. Aber nie im Leben weiß ein Kind instinktiv, dass das blaue Dreieck in die blaue dreieckige Öffnung reinsoll. Woher auch? Und wieso?? Die wissen doch nicht mal, dass diese beiden Dinger zusammengehören, für sie sind das einfach nur: Interessante Dinge.
Wer jetzt versucht, die Entwicklung zu beschleunigen, indem er mit den Kindern „übt“ macht einen entscheidenden Fehler: Jedes „Nein, das Dreieck gehört doch nicht in den Kreis, das gehört doch hier rein“ und jedes „schau mal, Schatz, SO geht das“ demotiviert das Kind, weil etwas ganz entscheidendes ausbleibt: das selbstgeschaffene Erfolgserlebnis! Das Dreieck mit Hilfe von Papas Hand in den richtigen Platz der Sortierbox zu stopfen ist NIX gegen das Aha-Erlebnis wenn der rechteckige Bauklotz nach hundert Versuchen endlich im runden Tupperdöschen verschwindet. Und nach nochmal hundert Versuchen wieder rausflutscht. DAS ist Förderung: die Kids genau das machen zu lassen, an dem sie gerade Interesse zeigen.
Schmatzt mein Baby genüßlich an den eigenen Fingern herum, oder dreht es einen Holzklotz in der Hand? Versucht es sich zu strecken um an einen Luftballon zu kommen? Dann ist DAS gerade Förderung. Das Baby ist sehr vertieft in die Erforschung von Oberflächen. Es lernt das Gewicht und das Verhalten von Gegenständen kennen, lernt Abstände einzuschätzen. Jetzt in der besten Absicht mit einem pädagogisch wertvollen Holzspielzeug um die Ecke zu biegen lenkt das Baby ab und stört die Neuronen im Hirn bei der Verknüpfung. (Im blödesten Fall fängt das Baby an zu weinen, weil es gestört wurde, was Eltern oft zu hektischem „Aber was hast du denn, mein Schatz? Willst du die Rassel nicht? *jammer* Lieber den Ball? *schrei* Guck doch mal, so ein tolles Rasseldingdongklingelingspielzeug? *lauterbrüll* Oder hast du in die Windel gemacht? *kreisch*  Oh Gott, was ist denn nur mit dem Kind los? Bestimmt hat es Hunger!!“ Und da „Hunger“ offensichtlich der größte gemeinsame Nenner ist, auf den panische Eltern sich einigen können, wenn das Baby ohne schriftliche Erklärung weint, kriegt es was zu essen, obwohl es erst vor einer halben Stunde satt war. Natürlich ist Baby erstmal ruhig, wenn es Brust oder Flasche im Schnabel hat, „uff- tatsächlich Hunger!“, fängt aber drei Minuten später wieder an zu heulen weil jetzt der Bauch zu voll ist und weh tut, die Eltern rätseln, was das Kind hat, versuchen wieder alles mögliche (Rassel? Bäuerchen? Windel? Hunger?? *schrei*) Und schon ist eine ungute Spirale in Gang gesetzt an deren Ende häufig frustrierte, unglückliche und ratlose Eltern stehen und oft genug der Gang zur nächsten Schreiambulanz folgt.
Wo war ich? Ich werd ja grad selber völlig plemplem wenn ich darüber nachdenke.)
Eine Erkenntnis kann ich hier durchaus als evolutionär gesichert verkaufen: Kinder wollen lernen. Sie WOLLEN sich weiterentwickeln und streben immer nach der nächsten Stufe, nach dem nächsten „Big Thing“.
Boah, nach etwas greifen und es tatsächlich erwischen! Den Körper sooooooo lang machen bis man den Fetzen Stoff zu fassen bekommt! Dinge ineinander stecken und wieder herausbekommen!! Aus kleinen Fetzen (in der Tatübox) große weiße Wolken machen (die Taschentücher überall verteilen)!! Am Tischbein hochziehen und herausfinden was da oben so schön glänzt! In Bewegung kommen und dorthin krabbeln können wohin Mama gerade verschwunden ist!!
DAS sind Erfolgserlebnisse, die Kinder zum Weiterentwickeln animieren! Könnten Kinder sich nur mit Hilfe von pädagogisch wertvollem Förderspielzeug weiterentwickeln, dann, mit Verlaub, würden wir immer noch vom Baum runter scheißen. Bei den Höhlenmalereien ist meines Wissens keine einzige Motorikschleife gefunden worden und trotzdem haben irgendwelche Köpfe COMPUTER erfunden. Röntgengeräte! Mein Gott! (Ich bin mir nicht sicher, ob Konrad Zuse eine Motorikschleife daheim hatte. Oder Marie Curie einen OBall?)
Herrgott, Eltern, woher nehmt ihr nur eure verdammte Ungeduld? Lasst euch doch nicht von Motorikschleifenherstellern einreden, euer Kind sei nicht gut genug und müsse gefördert werden! In ein paar Jahren wird keiner mehr merken, ob Kunigunde früh laufen konnte oder wann Gwendoline sprechen lernte.
Babys und Kinder brauchen kein Förderspielzeug für eine gesunde Entwicklung. Genausowenig wie sie bunte Bentoboxen, Klamotten aus dem Boden-Katalog oder Kurse in südchinesischem Körpermakramee brauchen.
Der beste Fördermotor für ein Baby sind die Eltern. Authentische Eltern, die hinter dem stehen, was sie mit ihrem Kind veranstalten und selber Spaß dran haben.
Die Botschaft ist klar, oder?
Kauft keine Motorikschleifen/Schwimmkurse/whatever, weil die ja so irre fördernd sind.
Kauft sie nur, wenn ihr merkt, dass euer Kind sie wirklich toll findet. So einfach ist das.

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3 Gedanken zu „P wie Pimp my Baby

  1. Ui, da regt sich das Hörnchen ja mal auf 😉
    Ich möchte ergänzen, dass die Motorikschleife ausschließlich im Wartezimmer des Kinderarztes interessant ist. Wahrscheinlich wegen der Trilliarden Bazillen, die dort auf die Mitnahme warten ;-))
    Wir zwei beide werden an diesem Wahn nichts ändern. Das sieht man doch schon daran, dass die lieben Kleinen immer früher in den Kindergarten gesteckt werden. Rechtsanspruch ab dem ersten Geburtstag… Unverantwortlich, was Kindern an Bildung vorenthalten wird, wenn sie sich bis zum dritten Geburtstag zu Hause in elterlicher Obhut befinden, oder?!
    Tief atmen,
    Kathrin

  2. Bentoboxen!!!! was bin ich froh, dass meine kinder schon aus dem alter raus waren, als das aufkam. ich hätte mich ja sowas von unzulänglich gefühlt…. und trotzdem sind sie was geworden! 😀
    das größte problem ist wohl, dass die kiddies den ganzen kram schon viel zu früh kriegen. was soll das denn, zum ersten geburtstag ein bobbycar zu verschenken??? die sollen erst mal laufen, bevor sie mit karacho die einrichtung zertrümmern!
    ein sehr schöner post, der mir aus der seele spricht.
    lg
    molli

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