Tell a Story- Meine Straße

Ich wohne am Anfang einer Sackgasse. Rechts und links der Straße, die sich am Rand des Waldes entlangschlängelt, stehen inzwischen 15 Häuser und erstaunlicherweise sehen alle 13 ursprünglichen Häuser der Sackgasse gleich aus (und sind im Innern völlig gleich aufgebaut).
Das liegt daran, dass die gesamte Straße Ende der vierziger/Anfang der fünziger Jahre vollkommen neu erschlossen und bebaut wurde, auf ein Waldgebiet am Ortsausgang, in dem die Bauern früher höchstens ihr Holz (oder mal ein Wildschwein) holten. Sämtliche Häuser wurden bezogen von Vertriebenen aus den Ostgebieten, die sich teilweise schon seit Kriegsende in der Gegend niedergelassen hatten.

Vermutlich war ihnen wurscht, ob ihre Häuser gleich aussahen, Hauptsache sie hatten ein Dach überm Kopf. (Fotostandpunkt vermutlich vom unteren Ende unseres heutigen Grundstückes. Bild abfotografiert von einem Foto aus privatem Besitz.)
Zwischen 1945 und 49 kamen allein in den Taunus 16.000 Vertriebene (das war fast ein Fünftel der Bewohner) für die schnellstmöglich Wohnraum geschaffen werden musste. Solche oder ähnliche Siedungen entstanden an vielen Orten.
Heute, wo Wohnraum nicht mehr nur überlebensnotwendiger Schutz vor Wind und Wetter ist (man stelle sich dieses Wetter im Zelt oder im Freien vor: *brrr*)

sind fast alle Häuser auf die ein oder andere Weise individualisiert und hübsch hergerichtet. Ein Anbau hier, eine andere Dachfarbe da, eine Kernsanierung und ein roter Anstrich oder ein riesiger Wintergarten dort. Viele ältere Leute leben hier, Nachkommen der ursprünglichen Bewohner. Auch ganz neue Leute sind hergezogen, junge Familien, die für Nachwuchs in der Straße sorgen. Wenige Namen der ursprünglichen „Siedler“ kennt man gar nicht mehr, weil die dazugehörigen Familien längst weggezogen sind. Aber die meisten der Menschen haben sich auf die ein oder andere Weise ins Dorfgedächtnis eingegraben und die meisten Häuser heißen natürlich nicht nach den jetzigen, sondern nach den ersten Bewohnern.
Heutzutage ist es nur noch vom historischen Standpunkt aus interessant, wer ein alteingesessener Dörfler und wer aus den zugezogenen Familien stammt. Zusammen mit der Frage, wer denn nun mit wem verwandt ist, was in einem 690-Seelen-Dorf immer wieder mal zur Heiterkeit führt, wenn jemand irgendeine Verwandschaftslinie noch nicht ganz genau auswendig hersagen kann, auch nach vielen Jahren Dorfleben nicht. „Was, der ist mit dem verwandt?“ Man lernt nie aus…
Von meinem Aussichtspunkt aus dem Wohnzimmer kann ich fast alle Häuser der Siedlung sehen, den Rest des Dorfes habe ich im Rücken.
Und jetzt warte ich auf besseres Wetter.
So vielleicht:

Den Beitrag „Tell a Story – Meine Straße“ verlinke ich mit der gleichnamigen Blogparade bei „Frühstück bei Emma
Danke für den Anstoß an Astrid!

(Das, was auf dem oberen Bild aussieht wie die Überreste eines Waldes nach einem Atomkrieg ist übrigens ein gutes Beispiel für Mehrfachnutzung. Den Wald teilen sich ausser den ursprünglichen Bewohnern (ein paar Rehe und viel zu viele Wildschweine!) nämlich auch Friedwald und die Kinder, die sich dort ein Tipi und einen Häuptlingsbaum gebaut haben. Das führte dazu, dass mein Sohn vor einigen Jahren, als der Friedwald den Wald übernahm, kritisch anmerkte, ob das denn den begrabenen Toten nix ausmache, wenn die Kinder ihnen auf den Kopf pinkelten beim Spielen. Man könne ja nicht immer bis heim flitzen wenn man mal müsse. Mein Sohn. Immer pragmatisch.)

3 Gedanken zu „Tell a Story- Meine Straße

  1. Hmmmm ja. Auch in meiner Stadt gibt es einige Straßenzüge, die nach dem ersten Weltkrieg für die Vertriebenen aus dem Boden gestampft wurden. Macht mich auch immer nachdenklich, die Entstehungsgeschichte der „Gartenstadt“. Sie damals etwa einen Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, mittlerweile ist ist die Stadt da zusammengewachsen.

  2. Oh wow.. da steckt ja viel Geschichte drin. Siedlungshäuser hatten wir nicht. Aber ich finde deinen Text total spannend. Und das Luftbild ist richtig gut. Ein Bild zum Hängenbleiben. Übrigens natürlich weiß ich auch, wer in meinem Dorf mit wem verwandt ist.. und noch besser.. .wer was mit wem mal hatte… also bei den Älteren war das schon sehr lustig machmal.. .waaaaaassss das war seine erste Liebe.. usw… ich danke dir für deine Geschichte. Ich freue mich so , schön, dass Du dabei bist. liebe Grüße Emma

  3. Hatte deinen Beitrag schon vor meinem Sport gelesen, musste dann aber schnell weg – deshalb jetzt erst der Kommentar, denn deine Geschichte hat mir gut gefallen ( auch die Fotos ). Ich kenne ja nur zu gut aus meiner Kindheit diese Siedlungshäuser für Flüchtlinge, oft am Ortsrand, etwas isoliert. Vertriebene…das Wort ist für mich immer noch wie so ein Schlag ins Gesicht, war meine Mutter ja auch so ein unerwünschtes Flüchtlingsmädchen. Für mich war es die Möglichkeit, in der tiefsten Provinz schon von klein auf andere Kulturen in ihren Essens-, Wohn- Und Festgebräuchen zu erleben ( wahrscheinlich kann ich mich deshalb auch nicht in die Borniertheit einiger unserer Mitbürger hineinversetzen ).
    Das Flüchtlingshaus neben meinem Elternhaus ist vor ein paar Jahren abgerissen worden, da zu großer Sanierungsaufwand.
    Und das ist tatsächlich ein Friedwald, dieser kahle Hang?
    LG
    Astrid

Kommentare sind geschlossen.