Ich weiß jetzt, was mich Anfang November immer so attackenmäßig in die Weihnachtsstimmung drischt: es ist das panikartige Ausfüllen von sechzig bis siebzig Weihnachtswunschkärtchen für bedürftige Kinder und Jugendliche (hatte ich schonmal einen freundlichen Text zu dem Wort „bedürftig“ geschrieben? Nein? Ach, das liegt wohl daran dass mir dazu nix freundliches einfällt, grrrr!) zwischen 0 und 14 Jahren, damit nette Menschen sich ein Kärtchen vom Weihnachtsbaum abpflücken, das gewünschte kaufen, einpacken und mit guten Wünschen auf die Reise zu einem unbekannten Menschen schicken. Hach, da wird mir warm ums Herz. Und den beschenkten Kindern erst.
Blöderweise können wir unmöglich alle Kinder selbst einen Wunsch formulieren lassen, bei manchen ist es ja recht einfach, aber sehr viele sind gar nicht in der Lage, etwas zu formulieren oder es würde zu lange dauern sie zu kontaktieren und vor allen Dingen möchten wir ja keine Erwartungen wecken auf bestimmte Geschenke, die dann möglicherweise gar nicht erfüllt werden oder es kommt was ganz anderes, hatten wir alles schon, also lautet die Devise: selber machen und möglichst genau den Geschmack treffen.
Also sitze ich mit meiner Kollegin stundenlang (viele Stunden!) und überlege: was wünschen wir dem jeweiligen Zwerg? Dazu muss man wissen, meine Kollegin hat studiert und ist praktisch, aber auch theoretisch voll das Ass. Ich bin ja nur Erzieherin und grundsätzlich eher so der basisnahe Typ und überlege ganz pragmatisch: wie erzeuge ich bei einem Kind am besten den Zalando-Schrei, während meine Kollegin überlegt, wie sie den Kindern am ehesten etwas Gutes tun könnte. Also, der Kevin, der tut sich so schwer mit den Buchstaben, da wäre doch ein Lernspiel was ganz Tolles für ihn, da nehmen wir am besten die Sprechhexe. Und ich so: Nope. No Way. Der kriegt Lego Nexo Knights Lances Doppellanzen-Cruiser. Oder die Lego Super Heroes Kryptonit Mission im Batmobil.
Jedesmal derselbe Kampf. (Den ich meistens gewinne *höhö*)
Warum? Ganz einfach. Ich hasse Lernspiele. Lernspiele sind ein Widerspruch in sich, die sind langweilig, die Regeln sind vollkommen irre und vor allem sind sie so verdammt durchschaubar. Wenn ich zu so einem armen gequälten Menschenkind ein Lernspiel hinschleppen muss, dann komme ich mir immer vor die böse Hexe, die säuselt „Hier kommt die liebe Frau Tralala, die spielt mit dir ein schöööönes Spiel“ und in Wirklichkeit will ich gar nicht spielen sondern das arme Kind zum langweiligen Lernen zwingen und arrrgl, schon verfällt das Kind in katatonische Starre, aus der es erst erwacht wenn die verdammte Frau mit ihrem Lernspielekoffer wieder abgezogen ist. Pfuipfuipfui.
Wir fassen uns jetzt mal im Kreis alle an den Händen und sagen gemeinsam laut und deutlich: Lernspiele sind Kacke!
Puh, schon besser! Das musste zwischendurch mal kurz sein. Warum finde ich also Lernspiele kacke? Das ist zum einen schon mal ein verdoppeltes Dingsbums, so ein plemplem-Ausdruck wie „emotionale Gefühle“. Spielen IST Lernen. Punkt. Das muss man sich mal klarmachen- immer wenn unsere Kinder spielen, lernen sie. Man muss sie nur spielen lassen! Das ist so verdammt einfach!
Aber im Optimierungswahn unserer Gesellschaft geht das einfache Spielen manchmal bissi flöten, so schade. Seit einigen Wochen darf ich einen Neunjährigen wöchentlich zur Logopädie fahren in eine Riesenpraxis, in der alles mögliche angeboten wird zur Perfektionierung nicht ganz perfekt ausgefallener Kinder. Logo, Ergo, Physio, wasweißichio.
Da sitze ich dann eine Dreiviertelstunde im Wartezimmer rum, tue so, als wäre ich mit meinem Smartphone beschäftigt und höre dabei den drei Müttern zu, die ihren offensichtlich auch nicht ganz fehlerlosen Nachwuchs dort verbessern lassen. Ok, selbstverständlich könnte es theoretisch möglich sein, dass die fraglichen Kinder allesamt einen tatsächlichen Förderbedarf haben, aber nach Zusammenführung aller Indizien wie fahrbare Untersätze im Hof (SUV der Marke: Platz da vor dem Schulhoftor, hier komme ich und bringe Konstantin-Rudolph bis ins Klassenzimmer- der Schulranzen ist ja SO schwer!), Gesprächsthemen („wie fandet ihr denn den Psychologen? Mir schien ja, dass der Intelligenztest von Charlotte-Sophie ein wenig an ihren tatsächlichen Fähigkeiten vorbeiging“ und “ Habt ihr schon gehört dass im nächsten Jahr Ergotherapie gleichzeitig mit Frühchinesisch angesetzt ist?- wie können die denn so was machen, als wüßte man nicht, wie außerordentlich WICHTIG beides für die Entwicklung von Theodor Friedrich ist!“) und nicht zuletzt des allgemeinen Erscheinungsbildes (Klamotten Ton in Ton auf die Stiefel abgestimmt. Wahlweise Pferde- oder Barbourjacken-Geruch. Selbstgefälliges Nebenbei-Telefonieren mit den Mietlingen deren Heizung ausgefallen ist und die SCHON WIEDER anrufen- was man halt so zu tun hat. Ihr wisst schon.) muss ich leider sagen, dass ich mit einer Mischung aus innerlichem Grinsen (das wandelnde Klischee, wie geil!) und Verzweiflung (Hilfe! Was tun die bloß ihren Kindern an?) das Ganze verfolge. (Irgendwann merkt mal eine, dass ich bei Facebook immer auf den gleichen Post starre. Ich sags euch, dann bin ich sowas von am Arsch.)
Aber eigentlich frag ich mich die ganze Zeit: wieso sind die nicht einfach mal zufrieden mit ihren Kids? Lassen sie einfach mal so ohne tieferen Sinn für die ZUKUNFT (dramatische Musik!) spielen? Einfach mal Blödsinn mit ihren Kindern machen, irgendwelche eigenen Regeln für Spiele erfinden, das viermillionste Legobauwerk bestaunen, unterhalten, die Kinder ihren Interessen nachgehen lassen und all den Kinderkram mitmachen ohne ständig und immer an die berufliche Zukunft zu denken? Das ist wesentlich effektiver als jedes Lernspiel.
Ich meine, hallo? Lernspiele, die „Lesepolizei“ und „Rechenkönig“ heißen? „Sprechhexe“, „Rund um den Kalender“ und „Das Geheimnis der Zahleninsel“? Nee, sorry, Leute. Die meisten davon kenne ich und sie sind scheißlangweilig. Ehrlich.
Ich sags mal so: entweder hat euer Kind tatsächlich ein körperliches oder geistiges Defizit irgendwo, dann braucht es die entsprechende Diagnose und Ergo-, Logo- oder Psychotherapie. Oder euer Kind ist völlig in Ordnung und entwickelt sich in mancherlei Hinsicht nur ein bißchen ungleichmäßig (wie das ungefähr 90 % aller Kinder tun), dann braucht es das was alle Kinder brauchen: Liebe, Empathie und vor allem die vom Herzen kommende Ansage von den Eltern DU BIST PERFEKT SO WIE DU BIST!!!
Aber dieses ständige *mimimi* aber Gustav von Müller-Fuchtelheims kann schon laufen *mimimi* Elisabeth von den Sackheim Beutlins ist schon viel größer *mimimi* schon wieder eine drei in Englisch du landest noch bei der Müllabfuhr *mimimi* geht nicht nur mir gewaltig auf den Zeiger, sondern hat doch auch eine Auswirkung auf die Kinder. Was für ein Selbstbewußtsein sollen die denn entwickeln wenn sie von frühester Kindheit an von Optimierung zu Optimierung geschleppt werden, weil sie ja offensichtlich nicht gut genug
für ihre Eltern sind?
Also bitte: Lego, Playmo, Kuscheltiere, Malstifte, Hörspiele, Bücher, Bauklötze noch und nöcher. Aber bitte keine didaktischen, pädagogisch wertvollen Lernspiele. Die braucht kein Mensch.
Und eins ist wohl klar: eines unserer Mädels hat sich eine uralte CD von Nirvana gewünscht (4,99! Als einzigen Wunsch! Mit zwölf!) Ich werde höchstpersönlich prüfen, ob diese CD in dem Geschenk enthalten ist und wenn ich das ganze verdammte Geschenk dazu auseinanderpflücken und neu verpacken muss. Zur Not tu ich die selber mit rein. Wie geil ist das denn: Zwölf und wünscht sich eine CD von Nirvana? Halleluja, es geschehen noch Zeichen und Wunder!